Von Mumbai an den Ganges – willkommen im nun bevölkerungsreichsten Land der Welt

Mumbai und die Höhlen des Dekkan-Plateaus

Nun stand ich da, am Rand der Hauptstraße, die vom Flughafen Mumbais in den Westen der Stadt führt. Sonja ist nicht mehr mit dabei. Ich hatte morgens vor dem Flughafengebäude das Reiserad wieder zusammengebaut. Julian, ein anderer Radreisender aus Deutschland, war ebenfalls an diesem Morgen mit dem Flugzeug aus Maskat angekommen, allerdings mit einer anderen Fluggesellschaft. Vor dem Terminal blickte ich nun auf diesen ununterbrochenen Strom von hupenden TukTuks, Lastwagen und Taxis. Es war auch nicht wirklich zu erkennen, wie viele Fahrstreifen diese Straße eigentlich haben soll. Nach einer Nacht ohne wirklichen Schlaf war ich recht ausgelaugt. Da jetzt trotzdem einfach mit rein? Muss wohl so sein. Kurz im Kopf auf Linksverkehr umgeschaltet, und dann einfach losgefahren. Zu meiner Überraschung stellte ich recht schnell fest, dass der Verkehr gerade so schnell floss, dass ich auch mit dem beladenen Reiserad recht gut mithalten konnte. Und dann begann die Sache, sogar irgendwie Spaß zu machen. Lücken suchen, beschleunigen, bremsen, über eine Kreuzung schießen. Nach den ersten zwei Kilometern Mumbai hatte ich tatsächlich ein recht breites Grinsen auf dem Gesicht. Von einem Hostel aus erkundete ich in den folgenden Tagen diese riesige Stadt in dieser vollkommen andersartigen Welt. Dazu fuhr ich mehrfach mit der S-Bahn ins Stadtzentrum. Die Züge fahren hier generell mit offenen Türen – eine Klimaanlage, welche wenigstens nicht ausfallen kann. Das war auch gut so, denn die Temperaturen waren tagsüber mit etwa 36 °C nun noch einmal deutlich höher als im Oman. Wenn der Zug über offene Brücken fährt, kann man an der Tür richtig Höhenschwindel bekommen. Eine Einzelfahrt kostet 10 Rupien, also etwa 11 Cent – bemerkenswert günstig, wie so vieles in Indien. Ich fuhr zum Chhatrapati Shivaji Mumbai Terminus (CSMT), einem der verkehrsreichsten Bahnhöfe der Welt. Das Gebäude im Stil der Viktorianischen Neogotik ist ein Hingucker. Anfangs erschlug mich Mumbai regelrecht: die brechend vollen Gassen, die Lautstärke, die vielen bunt gekleideten Menschen, die wie Ameisen auf einem Ameisenhaufen geschwind und zielgerichtet kreuz und quer aneinander vorbeilaufen. Im Hafen ging ich zum „Gateway of India“ aus dem Jahr 1924, welches für Indien eine besondere Bedeutung hat, da durch dieses Tor im Jahr 1948 die letzten britischen Besatzungstruppen das Land verließen. Unzählige Inder besichtigten das für sie wichtige Gebäude. Vom Hafen aus nahm ich ein Boot zur Elephanta-Insel, welche für ihre hinduistischen Höhlentempel bekannt ist. Auf dem Boot waren außer mir nur Inder, aber eher eine andere soziale Schicht als vorher in der S-Bahn: die Männer trugen feine Hemden, dicke Uhren, mehrere Ringe und manchmal Armreife. Die Frauen waren von Kopf bis Fuß mit Gold behangen. Die junge indische Mittel- und Oberschicht erkundet ihr Land. Auf der Elephanta-Insel ging es eine lange Treppe an unzähligen Marktständen vorbei hoch zu den Höhlen. Kühe standen entspannt mitten im Weg umher. Die Haupthöhlen sind mit eindrucksvollen Wandreliefs aus dem 6. Jahrhundert gestaltet, welche den hinduistischen Gott Shiva verehren. Ich war nach dem Mittleren Osten nun wirklich wieder in einer ganz anderen Kultur angekommen. Aber auch von der Fauna her hatte sich einiges geändert: vor den Höhlen leben zahlreiche Gruppen von Indischen Hutaffen. Sie rasen über das Gelände und hoch auf die Felsen und Bäume. Und sie sind clever. Sehr clever. Als ich eine Mutter mit ihrem Jungtier fotografieren wollte, stellte ich meine Kameratasche und meine Wasserflasche neben mir ab. Ich wollte auf die Affenmutter fokussieren, aber in dem Moment flitzte sie an mir vorbei und griff sich geschwind meine Wasserflasche. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie den Deckel abgeschraubt. Nun tranken sie und ihr Jungtier aus der Flasche. Hatten halt auch Durst. In den folgenden Tagen besichtigte ich noch unter anderem das Gandhi-Haus „Mani Bhavan“ und das archäologische Museum mit dem einfach Namen „Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya“. Und ich genoss das vielfältige und berühmte Essen Mumbais. In wohl keinem anderen Land der Welt kann man wohl so viele vegetarische Gerichte ausprobieren. Selbst als Fleischesser wird man hier lange Zeit nichts vermissen. In Mumbai trifft man aber mehr oder weniger zwangsläufig aber auch auf eine andere Seite Indiens: Slums und fürchterlich verschmutzte Flüsse. Man mag mir bitte nachsehen, dass ich aus Gründen des Anstands keine Fotos der Slums gemacht habe.

Von Mumbai aus fuhr ich mehr oder weniger immer in Richtung Nordosten. Am ersten Tag außerhalb der Stadt fühlte sich die Temperatur nachmittags plötzlich besonders heiß an – es war, als ob man mir während des Radelns einen Fön ins Gesicht halten würde. Wie ich beim Blick auf die Wettervorhersage feststellte, war das Thermometer nun auf 42 °C geklettert – eine ganz neue Herausforderung. Glücklicherweise kann man entlang der indischen Landstraßen alle paar Kilometer Getränke an kleinen Ständen oder Restaurants kaufen (der Preis ist immer gleich), aber bei diesen Bedingungen war es auch wichtig, die Elektrolyte wieder zu ersetzen. Dabei halfen Bananen und die standardisierten Rehydratationssalze („ORS“), die man zum Glück ebenfalls in fast jeder Kleinstadt bekommt. Bald erklomm ich den Anstieg zum Dekkan-Plateau. Die Region ist bei Geologen für ihre riesige Flutbasaltformation bekannt, welche vor etwa 65 Millionen Jahren durch sehr aktiven Vulkanismus entstand. Ob dieser Vulkanismus neben dem Meteoriteneinschlag von Yucatan ebenfalls zum Aussterben der Dinosaurier beigetragen haben könnte, wird in der Fachwelt diskutiert. Übrig geblieben sind heute große Tafelberge aus Basalt, welche aus dem Plateau herausragen. Und dieser Basalt war vor etwa 2.000 Jahren die Baugrundlage für buddhistische Mönche, welche vielerorts ihre Höhlenkloster ins Gestein hinein meißelten. Bei Nashik lagen die Pandav-Höhlen zuerst auf meinem Weg. Die Höhlen befinden sich oberhalb des Ortes an der Flanke eines Tafelberges. Man kann zwei Grundformen von Höhlen voneinander unterscheiden: Die Grundrisse der meisten Höhlen weisen einen rechteckigen zentralen Raum auf, an den sich schlichte Kammern anschließen. Dieser Typ heißt Vihara. Gegenüber des Eingangs befindet sich meistens ein Relief von Buddha. Andere Höhlen wirken dagegen wie ein Kirchenschiff: ein länglicher Raum mit Säulen am Rand, an dessen halbrunder Apsis ein schlichter Stupa steht. Dieser Typ heißt Chaitya. Von Nashik aus ging es für mich über das Dekkan-Plateau weiter zu den Ajanta-Höhlen, welche zu den prächtigsten ihrer Art in Indien gehören. Ein Inder im Hostel in Mumbai hatte mich auf sie aufmerksam gemacht. Auf der Reise dahin hatte ich unterwegs immer wieder freundliche Begegnungen mit Einheimischen. Touristen sind im ländlichen Indien sehr selten, sodass man als Europäer schnell zu einem beliebten Selfie-Motiv wird. Die Ajanta-Höhlen liegen verborgen in einem engen Flusstal. Es handelt sich wie auch bei den Pandav-Höhlen um etwa 2.000 Jahre alte buddhistische Höhlenkloster. Einige der Ajanta-Höhlen haben äußerst aufwändige und detaillierte Wand- und Deckenmalereien. Auch die Stupas und Wände einiger Chaitya-Höhlen sind ungleich komplexer ausgeführt als die Exemplare bei Nashik. Die Ajanta-Höhlen gehören zu den herausragendsten Exemplaren ihrer Art und mich haben sie tief beeindruckt.

Von den Höhlen zu den Tempeln von Madhya Pradesh

Der Bundesstaat Maharashtra war nun durchradelt und es ging hinein nach Madhya Pradesh. Wie schon in den ländlichen Gebieten davor haben mich auch hier einige Leute, die auf Motorrollern an mir vorbeifuhren, gefragt, ob sie Selfies mit mir machen dürfen. Eine Bitte, der ich gerne nachkam, auch wenn aufgrund meiner fehlenden Hindi-Kenntnisse leider nur selten ein wirkliches Gespräch zustande kam. Einmal führte der Selfie-Wunsch zu einer etwas komischen Situation, als ich mich – inmitten schlimmster Mittagshitze – nach einigen Anstiegen im Schatten eines größeren Baumes links der Straße verkriechen wollte. Da hing ich zusammengesunken über einer Baumwurzel und wusste nicht, ob ich kollabieren soll. Aber auch hier im Dickicht blieb ich nur einige Minuten lang unentdeckt, bis zwei Passanten mich trotz meiner Abgeschlagenheit zum Fotografieren animierten. Dass ich gerade mehr oder weniger gegen das Zusammenbrechen kämpfte, schienen die beiden nicht ganz mitbekommen zu haben. Ich nehme es ihnen aber natürlich nicht übel, sie meinten es nur gut. Mein erster Halt in Madhya Pradesh war die Stadt Khandwa, dem Heimatort von Saroo Brierley, dessen Lebensgeschichte im Film „Lion“ mit Dev Patel verfilmt wurde. Von Khandwa aus radelte ich durch eine weite Ebene, welche landwirtschaftlich genutzt wird. An endlosen Bananenplantagen vorbei überschritt ich den Fluss Narmada, der als eine Grenze zwischen Nord- und Südindien angesehen wird. Nördlich des Flusses schließen sich die Hügel des Vindhyagebirges an. Und dort folgte ich sehr schönen kleinen, leeren Straßen durch ausgedehnte Waldgebiete, vorbei an einem Stausee und erstmals durch ein kleines Tiger-Territorium hindurch. Gesehen habe ich keine der großen Katzen – zum Glück. Bald kam ich nach Bhopal, welches die Hauptstadt Madhya Pradeshs ist. Und dort wurde ich sehr herzlich vom Warmshowers-Host Sushant und seiner Frau Veena in ihrem wunderschönen Zuhause empfangen. Veena betreibt dort eine Schule für Töpferei, und so durfte ich selbst das Formen der Tonmasse auf dem Rad ausprobieren. Und das ist wirklich nicht einfach – nur mit Hilfe wurde aus der undefinierten Masse tatsächlich eine Schale. Das Töpfern wirklich zu lernen, dauert im Kurs mehrere Monate. Es war schön, sich mit Sushant mal wieder mit jemandem übers Radreisen ausgetauscht zu haben. Er hat auf dem Fahrrad schon unter anderem Australien und Ostafrika durchquert, kennt also die wirklich großen Abenteuer! Und Bhopal selbst? Das ist eine gesonderte Erwähnung wert, denn der Name der Stadt steht bei uns in Deutschland normalerweise nur für das größte Industrieunglück aller Zeiten im Jahr 1984. Die Realität vor Ort könnte dann aber nicht gegensätzlicher sein: von allen bisher durchquerten indischen Städte gefiel mir Bhopal vom Stadtbild her am meisten. Die Stadt hat viele Grünanlagen und vor allem mehrere Seen, teilweise direkt im Stadtzentrum. Die Straßen sind gewohnt lebendig und bunt. Von der Katastrophe zeugt nur noch ein abgesperrtes Gelände mit Ruinen im Norden der Stadt. Das Leben drumherum geht weiter. Von Bhopal aus radelte ich nach Sanchi, ein Ort, der für seine wichtigen buddhistischen Bauwerke bekannt ist. Der Große Stupa von Sanchi wurde vor etwa 2.400 Jahren errichtet und später vergrößert sowie mit vier reich verzierten Toren (Torana) versehen worden. Er gehört zu den ältesten Stupas und den ältesten Steinbauwerken Indiens überhaupt. Die Kulisse ist wirklich beeindruckend. Der Detailreichtum der etwa 2.000 Jahre alten Toranas ist grandios. Ich nahm mir die Zeit den Großen Stupa mehrfach zu umrunden und aus vielen Perspektiven zu betrachten. Das Gelände umfasst auch noch kleinere Stupas und einige Tempelruinen. Viele Palmenhörnchen und eine farbige Blutsaugeragame liefen umher. Am Abend nach der Erkundung las ich in einem Online-Artikel, dass Indien wahrscheinlich nun in dieser Woche China als das bevölkerungsreichste Land der Welt abgelöst haben dürfte. Und ich bin gerade mittendrin. Von Sanchi aus fuhr ich auf schönen und eher verkehrsarmen Straßen weiter in Richtung Nordosten. Nur die Straßenkühe wurden langsam irgendwie aufmüpfiger als bisher und verleiteten mich zu einigen gewagten Ausweichmanövern. Mal lagen sie auch einfach mitten auf einer Brücke auf der Fahrbahn, obwohl sich links und rechts davon grüne Wiesen befanden. In einigen kleineren Waldgebieten sah ich nun immer wieder viele Rhesusaffen und Hanuman-Languren, die am Straßenrand saßen und den Verkehr beobachteten. Ich sah auch einige Gruppen, in denen Affen beider Arten direkt nebeneinander saßen. Sie scheinen also miteinander auszukommen. Irgendwann stellte ich fest, dass ich mich nun so weit östlich befinde wie noch nie zuvor auf meinen bisherigen Reisen. Nach einigen weiteren Tagen auf dem Fahrrad erreichte ich Khajuraho, einen Ort, der für seine herausragenden Hindu-Tempel bekannt ist. Dort traf ich sogar tatsächlich kurz einen Geländewagenfahrer aus Mülheim an der Ruhr. Die etwa 1.000 Jahre alten Hindu-Tempel aus der Zeit der Chandella-Dynastie befinden sich in der Nähe eines kleinen Sees. Ihre Eingänge sind alle nach Osten in Richtung Sonnenaufgang ausgerichtet. Und ihre Verzierungen der Fassaden sind unfassbar detailliert und reich gestaltet! Hunderte aufwändige Darstellungen von Gottheiten, Menschen, Fabelwesen und Tieren wurden im Sandstein verewigt. Bekannt sind die Tempel auch für ihre teilweise schlüpfrigen erotischen Darstellungen in den Nischen der äußeren Seitenwände. Die Tempel sind über eine recht weitläufige Anlage verteilt, sodass ich eine Weile zwischen ihnen hin und her geschlendert bin und die Szenerie auf mich wirken lassen habe.

Varanasi sehen … und nicht sterben

Khajuraho liegt fast am nördlichen Rand des Bundesstaates Madhya Pradesh. Dessen Bevölkerungsdichte ist nicht viel größer als die von Sachsen, was auch erklären dürfte, warum ich - abgesehen von Mumbai - noch nicht den allgegenwärtigen Menschenmassen begegnet war, von denen Indienreisende oft berichten. Das sollte sich nun ändern, denn auf der kleinen Brücke über den Fluss Ken erreichte ich nun den Bundesstaat Uttar Pradesh. Dieses Gebiet ist ungefähr so groß wie das Vereinigte Königreich, seine Bevölkerungsdichte ist aber größer als die von Berlin! Ich konnte mir bislang nie vorstellen, wie die derart wuselige Gangesebene aussieht, geschweige denn wie man sie mit dem Fahrrad durchquert. Der erste Eindruck von Uttar Pradesh war dann auch tatsächlich eine deutliche Zunahme des Verkehrs auf den Landstraßen, was jedoch auch erheblich mehr einheimische Radfahrer mit einschließt. Fahrräder haben also auch hier auf den Straßen ihren gewohnten Platz - etwas, was das Radreisen in Indien im Vergleich zum Mittleren Osten und Südosteuropa sehr angenehm machen kann. Die erste kleinere Stadt in Uttar Pradesh war dann auch gleich gefühlt lauter und voller als die Siedlungen davor, wobei das aber auch der selektiven Wahrnehmung geschuldet sein könnte. Die eher kühle Phase der letzten zwei Wochen (bis 35 °C) war nun leider vorbei, weshalb ich mich tagsüber wieder auf Spitzentemperaturen von 42 °C einstellen musste. Konkret bedeutete dies, dass nach 13:00 Uhr nicht mehr viel ging - mindestens der Löwenanteil der Tageskilometer musste bis dahin bewältigt sein. Tagsüber ernährte ich mich in der Regel von Samosas, Jalebi (eine indische Süßigkeit) und Bananen, denn die gibt es auch in Uttar Pradesh alle paar Kilometer an Ständen zu kaufen. Abends wollte ich in der Regel das ausgezeichnete Brot “Butter-Naan” mit allem möglichen kombinieren, was aber im ländichen Raum gar nicht so einfach ist, da man Naan offenbar nur mit bestimmten Gerichten kombinieren darf. Ab und zu wurde die Bestellung vom Restaurant daher tatsächlich abgelehnt. In touristisch erschlossenen Orten hatte ich dieses kleine Problem aber nicht, dort urteilen die Leute nicht über den Essenswunsch von unwissenden Reisenden. Nach zwei Tagen entlang des Südufers des Ganges überquerte ich den Fluss in Varanasi. Es ist einer der heiligsten Orte der Hindus, von denen einige dorthin kommen, um dort zu sterben und eingeäschert zu werden. Die Stadt war für mich nicht nur einer der spannendsten Orte Indiens, sondern der gesamten bisherigen Reise überhaupt. Die Altstadt erhebt sich auf einem Prallhang des Ganges, wo sie aufgrund der erhöhten Lage recht gut gegen die Überschwemmungen in der Monsunzeit geschützt ist. Ihre Gebäude wurden vorrangig vor 100 bis 150 Jahren angelegt, weshalb sehr viele Gassen so eng sind, dass man nur zu Fuß, mit dem Motorroller oder eben mit dem Fahrrad vorwärts kommt. Da in der Vergangenheit Herrscher aus allen Teilen Indiens Angehörige ihrer jeweiligen Volksgruppen nach Varanasi entsendeten, ist die Stadt heute eine Art komprimierte Version von ganz Indien. Es gibt Viertel, die südindisch geprägt sind und solche, die nördlich geprägt sind. Entsprechend werden in der Stadt auch verschiedene Sprachen gesprochen. In den Gassen gibt es unzählige kleine Tempel und aktive Klöster, die als solche für Außenstehende kaum zu erkennen sind. Der Stadtverkehr auf den (wenigen) größeren Straßen Varanasis war teilweise äußerst zäh und aufgrund der engen Straßen noch voller als in Mumbai. Die Rollerfahrer quetschten sich so weit wie möglich links nach vorne vorbei. Jeder wollte an der Engstelle der erste sein, wie Kinder in der Grundschule beim Aufstellen in Zweierreihen. Am Ende warteten wir alle deutlich länger als notwendig, weil einfach niemand in seiner Spur bleiben wollte (da will ich mich nicht ausnehmen, der Fahrstil färbt massiv ab…). Varanasi ist bekannt für seine “Ghats”: Freitreppen, die vom hohen Ufer hinunter ans Wasser führen und zum Baden oder für religiöse Zeremonien genutzt werden. Die Ghats erkundete ich auf einer Bootstour vom Fluss aus. Kurz vor Sonnenuntergang fuhr das Boot am Manikarnika-Ghat vorbei. Dort standen gerade mehrere Holzstapel in Flammen, auf denen Verstorbene eingeäschert werden. Zwei Ghats sind in Varanasi dafür vorgesehen. Dem Glauben nach durchbrechen die Seelen der Verstorbenen, welche hier eingeäschert werden, den Kreislauf von Sterben und Wiedergeburt, erreichen den Zustand Moksha. Viele Menschen standen drumherum. Boote wie auch unseres fuhren auf dem Wasser an diesem Ort vorbei. Im Gegensatz zu unserer europäischen Kultur, wo die Einäscherung von Verstorbenen selbst für die meisten Angehörigen vollkommen im Verborgenen stattfindet, ist es hier ein normaler Bestandteil des öffentlichen Alltags. Der Leichnam wird, nachdem er zu Hause von der Familie gewaschen und mit verschiedenen Ölen behandelt wurde, auf einer Bahre von Angehörigen auf Schultern zum Ghat getragen und dort im Ganges gebadet. Der Leichnam trocknet etwa eine Stunde auf den Stufen des Ghats und wird dann auf einen Holzstapel gelegt. Eine kleine Menge Sandelholz oder Sandelholzpulver wird in den Stapel eingestreut. Ein männlicher Angehöriger entzündet das Feuer. Die Einäscherung dauert bis zu drei Stunden und im Anschluss wird die Asche dem Ganges übergeben. Auf meiner Reise durch Indien waren mir an Flüssen oder am Rand kleiner Ortschaften schon häufiger die Einäscherungsplätze aufgefallen. Das besondere an Varanasi ist die schiere Anzahl der Einäscherungen, die hier durchgeführt werden, weshalb die Feuer rund um die Uhr brennen, an jedem Tag im Jahr. Nach Sonnenuntergang fuhr das Boot zum Dashashwamedh-Ghat, wo jeden Abend das „Ganga Aarti“ stattfindet. Dieses Ritual ehrt Lord Shiva und den Gott Ganges. Fünf Hindu-Priester stehen nebeneinander auf kleinen Podesten und schwenken Fackeln und große Leuchter mit Kerzen zu rhythmischer Musik. Unzählige Leute schauen von Land oder vom Wasser aus zu. Der Verkehr auf dem Wasser läuft dabei übrigens nicht anders ab als an Land: jeder will zuerst vorne sein und kämpft dabei mit harten Bandagen. An einem anderen Abend ging ich noch einmal an Land zum Manikarnika-Ghat, um mir dort von einem der freiwilligen Helfer den Vorgang der Einäscherung im Detail erklären zu lassen. Die Stimmung am Ghat war weder dunkel noch betrübt. Angehörige trugen den Leichnam konzentriert und gefasst zum Ganges und danach auf den Holzstapel. Geweint werden soll während der Einäscherung nicht, denn dies würde das Aufsteigen der Seele des Verstorbenen verhindern. Die Helfer geben sehr bereitwillig ausführlich Auskunft und lassen Besucher am Geschehen teilhaben. Anschließend habe ich die Szenerie einfach für zwei Stunden nur still beobachtet. Es ist für Außenstehende wie mich ein nur schwer zu begreifender Ort. Am Rande des Ghats stehen Einheimische und unterhalten sich locker, trinken Tee und lächeln, während fünf Meter daneben der Schädel einer verbrennenden Leiche mit einer Stange aufgestoßen wird, damit die Seele entweichen kann. Man sollte mental vorbereitet hierher kommen. Nicht nur hinduistische Heiligtümer können in Varanasi besichtigt werden, sondern auch für den Buddhismus befindet sich eine der heiligsten Stätten ganz in der Nähe. Im Nordosten Varanasis schließt sich der Ort Sarnath an, der dafür bekannt ist, dass Buddha der Überlieferung nach dort seine erste Predigt vor seinen Anhängern gehalten haben soll. Ein gewaltiger Stupa und die Ruinen mehrere Tempel und Klöster erinnern daran. Varanasi war ein ganz besonderer Ort, an den ich mich lange erinnern werde. Es war der erste Ort in Indien, an dem ich auch auf zahlreiche andere Touristen aus dem Westen getroffen bin - verständlich, denn diese Stadt sollte meiner Ansicht nach auf keiner Indienreise fehlen. Nun werde ich in Richtung Norden weiterradeln, um Nepal einen kurzen Besuch abzustatten.

Über das Radfahren auf diesem Abschnitt

Stadtverkehr Mumbai: Es ist recht speziell. Gleich vorweg: wenn man es schafft, sich mit dem Verkehrsfluss zu arrangieren, kann es sogar richtig Spaß machen. Man benötigt sehr gute Reflexe. Beschleunigen, scharfes Ausweichen, Bremsen, rote Ampeln haben für alle Beteiligten nur Empfehlungscharakter – es ist eine Art GTA mit TukTuks. Ein Vorteil ist, dass der Straßenverkehr Mumbais selten deutlich schneller als 25 km/h fließt, weshalb man auf dem Fahrrad da durchaus „mitschwimmen“ kann. Will man an größeren Kreuzungen rechts abbiegen, kann es hilfreich sein, sich einfach direkt an ein TukTuk dranzuhängen, welches ebenfalls zum Abbiegen ansetzt (bzw. man geht rechts neben das TukTuk und nutzt es so als “Schild” gegen den Verkehr von links). Beim Navigieren sollte man sich an mittlere und größere Straßen halten: ich habe in Mumbai bei sehr kleinen Nebenstraßen mehrfach die Erfahrung gemacht, dass einige der in den Onlinekarten verzeichneten Verbindungen in der Realität durch die Wellblechhütten eines Slums überbaut sind. In Indien herrscht tendenziell Linksverkehr. In der Praxis fährt aber jeder dort, wo er oder sie gerade möchte. Auf den größeren Straßen mit Richtungsfahrbahnen teilt man sich die äußere linke Spur daher innerorts wie außerorts mit den Geisterfahrern, welche durchaus auf die Nerven gehen können. Um einen besseren Eindruck vom Verkehr zu vermitteln, habe ich einfach mal einige meiner 360°-Videos hier mit eingestellt. Mit einer entsprechenden Software sollte das Video auch als 360°-Ansicht darstellbar sein.

meine ersten Kilometer in Indien…

Die Landstraßen: Von Mumbai aus bin ich der großen Ausfallstraße Nr. 848 nach Bhiwandi im Nordosten gefolgt. Diese Hauptstrecke ist in einem erbärmlichen Zustand (so riesige Schlammlöcher hatte nicht einmal die Green-Velo-Radroute in Ostpolen) und recht verkehrsreich, aber man kommt trotzdem stetig voran. Ab Bhiwandi folgte ich der Straße Nr. 160 bis Nashik. Diese Strecke ist in einem erheblich besseren Zustand und im Großen und Ganzen recht angenehm zu radeln. Von Nashik aus folgte ich dann kleineren Nebenstrecken über Manmad und Chalisgaon zu den Ajanta-Höhlen – und dieser Abschnitt entpuppte sich radfahrerisch als unerwartet klasse! Bis auf kleinere Abschnitte waren die Straßen in einem guten Zustand und der nicht besonders dichte Verkehr bestand weitgehend aus Motorrollern – LKW, Busse und PKW waren auf diesem Abschnitt eher eine Ausnahme. Zu meiner Überraschung setzte sich das “Genussradeln” durch den gesamten Bundesstaat Madhya Pradesh fort: entlang der Strecke Khandwa, Bhopal, Sanchi, Sagar, Khajuraho war ich meistens auf sehr schönen und leeren kleinen Landstraßen unterwegs. Die Versorgungslage unterwegs war nie problematisch. Gefühlt konnte ich alle zehn Kilometer Getränke oder Essen bekommen. Das Sortiment der kleinen Dorfläden war aber immer sehr eingeschränkt, weshalb ich z.B. Hygieneartikel u.ä. nur in größeren Städten bekommen habe. Selber gekocht habe ich kein einziges Mal, dazu ist das indische Essen einfach zu gut, zu allgegenwärtig und zu günstig. Gefrühstückt habe ich auch fast immer erst unterwegs, normalerweise an den Ständen, die frische Samosas oder die Süßigkeit Jalebi verkaufen. Da die Bevölkerungsdichte in der Gangesebene sprunghaft ansteigt (ungefähr vierfach im Vergleich zu Madhya Pradesh), sind die Landstraßen in diesem Bundesstaat auch erheblich verkehrsreicher. Die von mir genutzte Fernstraße Nr. 35 nach Varanasi war jedoch nie unangenehm zu fahren, vor allem da Fahrräder aufgrund der sehr zahlreichen einheimischen Radfahrer einen festen Platz auf den Straßen haben. Nur die Kühe waren hier gefühlt risikobereiter im Straßenverkehr, weshalb es zu einigen Beinahe-Kollisionen mit den Wiederkäuern kam.

Stellvertretend für so viele indische Klein- und Mittelstädte habe ich hier einmal ein Video vom Verkehr in Mirzapur hochgeladen.

Noch einmal Mirzapur, mit tiefenentspannten Straßenkühen…

Und abschließend etwas Landstraße in Uttar Pradesh…

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Vom Ganges nach Kalkutta - mit einem Abstecher nach Nepal

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Von Riad nach Maskat - die Arabische Halbinsel ist durchquert