Von San Francisco nach Texas - mal wieder durch die Wüste

Die Pazifikküste: Golden Gate, Big Sur und Hollywood

Irgendwann zur Mittagszeit meines “zweiten Durchlaufs” des 26. Oktobers zeigte sich die Westküste Amerikas unter der linken Tragfläche des Airbus von Fiji Airways. Bei der Einreise wurde ich ausgiebig zu meinem Vorhaben befragt. Ich erwähnte „entlang der mexikanischen Grenze“ radeln zu wollen. Ein dummer Fehler. Die Miene des Grenzers verfinsterte sich. Ich konnte ihn dennoch von meinem Vorhaben überzeugen und letztendlich ließ er mich doch ins Land hinein. Ich bekam aber, wie bereits in Singapur und Neuseeland, keinen Stempel in den Reisepass, weshalb ich leicht enttäuscht nachfragte. „Do you want a stamp?“, fragte er. „Sure!“, antworte ich. So kam ich dann doch noch an einen Stempel des amerikanischen Kontinents. Draußen im Chaos vor dem Terminal wurde ich schon von Warmshowsers-Host Cyndi erwartet, die mich dort abholte. Vielen Dank für die Gastfreundschaft und Hilfe! Den folgenden Tag verbrachte ich mit Sightseeing in San Francisco - sehr schön, die Stadt gefiel mir wirklich sehr! Danach musste ich meine Route jedoch etwas umplanen: ursprünglich wollte ich zunächst immer entlang der Pazifikküste in Richtung Süden bis San Diego radeln, von wo aus eine Radfernroute der Adventure Cycling Association (ACA) in Richtung Ostküste abbiegt. Leider war der Big-Sur-Highway, ein Abschnitt des Highway No. 1, schon seit vielen Monaten in Folge eines Erdrutsches gesperrt. Bei der ACA fand ich aber eine Umleitung durch das Hinterland. Radfahrerisch kein Problem, aber dennoch eine Enttäuschung, da die Küste vin Big Sur als eine der schönsten des Kontinents gilt. Meine ersten Kilometer in San Francisco - übrigens Start- und Zielort der ersten Fahrrad-Weltreise von Thomas Stevens in den Jahren 1884-86 - führten mich jedoch nicht nach Süden, sondern nach Norden zur berühmten Golden Gate Bridge, welche ich dann gleich zweimal per Rad überquert habe. Ein besonderes Gefühl, plötzlich bei bestem Wetter auf dieser Brücke zu sein, die man zuvor schon hundertfach auf Fotos und in Filmen gesehen hat. Anschließend verließ ich die Stadt in Richtung Süden. Ich radelte in die Vororte von San Francisco. Die dichten, uniformen Siedlungen mit ihren absolut sterilen, kahlen „Vorgärten“ und Straßen wirkten fast wie eine Karikatur. Dann fuhr Kalifornien aber ganz großes Kino auf: Im Bereich der „Devil’s Slide“ geht der Highway No. 1 mittlerweile durch einen neuen Tunnel, weshalb Radfahrer und Wanderer nun die alte Straße für sich alleine haben – was für eine grandiose Aussicht auf den Pazifik! Es war so schön dort! Ich fuhr den Rest dieses Tages weitgehend immer auf dem Highway No. 1. Unterwegs traf ich Rusty aus Texas, der ein paar Kilometer mit mir zusammen fuhr. Er hatte vor ein paar Tagen einen polnischen Reiseradler namens Mateusz aus der Umgebung von Warschau getroffen. Etwa der Mateusz, den wir letzten Sommer in Lüleburgaz in der Türkei getroffen haben?! Exakt dieser Mateusz aus Lüleburgaz! Was für ein Zufall. Am nächsten Tag traf ich den Reiseradler Fabian aus Österreich - an der Pazifikküste ist ganzjährig ein recht reger Radreisebetrieb. Zum ersten Mal seit Europa bin ich wieder auf einer Strecke unterwegs, wo diese Art des Reisens nichts ungewöhnliches ist. Nachts heulten in der Nähe des Campingplatzes die Kojoten – etwas unheimlich. Einen Tag später traf ich wieder auf Rusty. Und er erzählte mir, dass eigentlich alle Radreisenden versuchen, die Baustelle auf dem Big-Sur-Highway nachts zu durchqueren, wenn keine Arbeiter mehr dort anwesend sind. Ah ja, so etwas tun die Leute also. Ich fuhr weiter nach Monterey. Beim Frühstück dort kam ich mit einer Passantin, einer Frau um die 60 Jahre, ins Gespräch. Als ich erwähnte, dass ich aus Berlin komme, fragte sie nach Ost oder West. Ich erklärte, dass ich Ossi sei. Sie fragte dann bierernst, ob ich jetzt jederzeit ohne Probleme in den Westen reisen könnte. Etwas erstaunt antwortete ich vorsichtig, dass Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt wurden. Sie war darüber sehr verwundert. Ich berichtete ihr dann vom Zerfall der Sowjetunion bis zum Beginn des Krieges gegen die Ukraine.

Südlich von Monterey begann die Küste von Big Sur. Und die war wirklich beeindruckend. Ab und zu thronte die Straße bis zu 200 Meter über den Stränden und Buchten des Pazifiks darunter! Ich erreichte den Ort Big Sur, der im Wesentlichen aus Restaurants, Unterkünften und einer Bibliothek besteht, eingebettet in einen sehr schönen Pinienwald. Hier füllte ich noch einmal alle Vorräte für die folgenden Abschnitte auf. Rusty kam später dazu, kurz darauf dann auch Fabian. Es folgte ein fast fünf Kilometer langer Anstieg. Nie zu steil, aber wirklich ohne jede Unterbrechung. Ich kam hoch oben auf den Klippen von Big Sur an. Auf den ersten Kilometern entlang der Abbruchkante bekam ich fast Höhenschwindel auf der Straße, so dicht verlief sie entlang der Klippe über dem offenen Ozean! Der sich entwickelnde Sonnenuntergang tauchte die Küste in ein wunderschönes Orange. Vom Meer her hörte ich die Geräusche der Seehunde. Nach dem Sonnenuntergang wurden die wenigen Wolken in eine rote Farbe versetzt. Und dann wurde es dunkel. Im Gebüsch kreuchte und fleuchte es nun erheblich. Eine Gruppe von Rehen sprang vor mir über die dunkle Fahrbahn. Ich hatte drei Hauptziele für diesen Tag: 1) nicht von einem Bären oder Kojoten verzehrt zu werden, 2) nicht verhaftet zu werden und 3) nicht von der Klippe zu fallen. Über mir blickte die Milchstraße auf mich herab, unter mir rauschte der Ozean. Genial! Später beim Zelten wurde alle meine Handlungen von sehr neugierigen Waschbären beobachtet - Lebensmittel mussten sicher in Containern oder an Haken über dem Boden verstaut werden.

An Parkplätzen entlang der Strecke forderten Hörnchen oft sehr offensiv Nahrung ein - ich füttere aber generell keine Wildtiere, weshalb sie erfolglos bettelten. Ich kam an einen Aussichtspunkt, von welchem man aus unzählige See-Elefanten beobachten konnte, die recht faul auf dem Strand lagen und vor sich hin dösten. Bei Lompoc führte der Highway No. 1 mich durch die Außenbereiche der Vandenberg Space Force Base. Weiter südlich an der Küste zeltete ich wieder in einem State Park und betrachtete später den Sternenhimmel. Plötzlich sah ich eine grünliche Leuchtspur im Nachthimmel. Sie war örtlich begrenzt und ungefähr so lang wie der Abstand der beiden äußeren Deichselsterne des Großen Wagens. Sie blieb für etwa zehn Sekunden sichtbar und verschwand dann langsam. Von der Richtung her könnte sie von der Vandenberg SFB gekommen sein. Was machen die dort?! Am nächsten Tag traf ich in Santa Barbara dann wieder Rusty, mit dem ich eine Weile bis zum Campingplatz in Carpinteria radelte. Am nächsten Tag erreichte Ich Ventura. Die sozialen Kontraste sind dort gewaltig. Am westlichen Rand des Ortes campieren Obdachlose in Zelten unter Brücken oder im Gebüsch. Im Ort selber könnte es kaum gepflegter und vor Geld triefender zugehen. Es ist, als würden Verbannte vor den Toren einer verheißungsvollen Stadt lagern. Einen Tag später fuhr ich durch das Stadtgebiet von Malibu. Der berühmte Wohnort der Reichen und Schönen Hollywoods. Die Anwesen zwischen Küstenhighway und Strand sind zur Straße hin gut abgeschirmt. Links auf den Bergen thronen einige äußerst imposante Anwesen. Für mich war der Ort weniger angenehm, denn die Straße war erstens in einem erstaunlich mäßigen Zustand und zweitens war der Seitenstreifen oft zugeparkt, sodass ich auf die rechte Spur des sehr schnellen Verkehrs ausweichen musste. Später kam ich in Santa Monica an, von wo aus in Richtung Hollywood abbog. Ich radelte auf der repräsentativen Ocean Avenue und dann durch die Nebenstraßen von Beverly Hills. Die Nachbarschaft war gepflegt, in den Einfahrten standen die neuesten Elektroautos sämtlicher Hersteller. Die Straßen selbst aber waren wieder in einem erstaunlich schlechten Zustand. Irgendwann erreichte ich Hollywood. Und die Atmosphäre änderte sich, was nicht nur an den aufziehenden Wolken lag. Die Straßen waren dreckiger, traurige Gestalten wankten zwischen Touristen über die Gehsteige. Vor mir stand ein Mann auf der Straße und warf Steine, aber glücklicherweise nicht in meine Richtung. Dort, wo der Walk-of-Fame-Teil des Hollywood Boulevards endet, sind die Gehwege nicht mehr von goldenen Sternen, sondern von Zelten gesäumt. Viele Leute leben hier auf der Straße, in der Mitte des Geschehens. In Los Angeles wanderte ich dann zum Griffith-Observatorium. Von dem Gebäude aus hatte ich einen wunderbaren Blick auf den berühmten Hollywood-Schriftzug und die Stadt in der Ebene darunter. Von den Problemen dort unten sah man hier oben nichts. Von Los Angeles aus radelte ich dann innerhalb von ein paar Tagen nach San Diego. Unterwegs sagten mir einige Passanten, dass sie mich um das beneiden, was ich tue. Interessant, denn in diesen Tagen hatte ich mir ab und zu gewünscht, die Reise langsam zu einem Ende zu führen - das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite des Zauns… Später musste ich mich dann vom Pazifischen Ozean verabschieden. Nun kehrte ich ihm den Rücken zu und radlete entlang eines Flusses in San Diego in Richtung Osten – in Richtung des heimischen Atlantiks. Ich fühlte etwas Unsicherheit. Ich musste aus dem “geschützten Biotop” der netten Pacific Coast Route nun hinein in die Wüsten zwischen Kalifornien und Texas. Die Geborgenheit ging verloren, denn eine erheblich rauere Umgebung wartete nun auf mich.

Von San Diego zur Continental Divide: Letzter Termin vor dem Wintereinbruch

Östlich von San Diego ging die Radroute (ACA Southern Tier) zunächst fast ausschließlich bergauf, bis ich einen mediterran wirkenden Pinienwald erreichte. Die Nächte wurden ab nun richtig kalt. Bis Jacumba blieb die Strecke recht hügelig. Dort sah ich dann erstmals die berüchtigte Grenzmauer zu Mexiko, Trumps Prestigeprojekt. Schnurgerade schneidet die Mauer, welche mehr ein massiver Zaun ist, die Landschaft in zwei Hälften. Rüber kommen die Leute dennoch. An einer Stelle standen etwa 50 Männer neben Zelten in der Nähe der Straße. Die Border Patrol war bereits vor Ort. Östlich von Jacumba eröffnete sich nach einer kurzen, aber launigen und schnellen Abfahrt plötzlich die gewaltige Sonora-Wüste. Durch die flache Yuha, ein westlicher Ausläufer der Sonora-Wüste, radlete ich auf einer schnurgeraden Straße bis Calexico. In den Städten in Grenznähe wird fast ausschließlich Spanisch gesprochen. Auf halbem Wege zwischen Calexico und Yuma fühlte ich mich dann plötzlich wieder wie in Saudi-Arabien, da die Algodones-Sanddünen bis an den mehrspurigen Highway reichten. Alles war wie in Saudi: die Dünen, die Straße mit den beiden getrennten Fahrbahnen mit je zwei Fahrspuren, der Rüttelstreifen zwischen rechter Spur und Seitenstreifen, die Überlandleitungen am Straßenrand. Erstaunlich! Bei Yuma erreichte ich dann mit Arizona den zweiten Bundesstaat meiner US-Durchquerung und damit auch die nächste Zeitzone. Die Uhr wurde wieder eine weitere Stunde nach vorne gestellt. Ich kam voran. Yuma gilt als sonnenreichste Stadt der Welt. Als ich dort war, war es dicht bewölkt und regnete leicht. Was folgte, war oft über hunderte Kilometer konstant: die Route verlief auf meistens schnurgeraden Straßen durch absurd weite Ebenen, die nur spärlich bewachsen sind. Und auch eine wichtige Bahnstrecke verlief meistens in Streckennähe. Gewaltig lange Güterzüge, oft gezogen von vier Lokomotiven, rumpelten an mir vorbei. Auf einer dieser Abschnitte kam mir plötzlich ein schwedischer Reiseradler entgegen, der seit Florida in entgegengesetzter Richtung auf der Southern Tier unterwegs war. Von ihm erfuhr ich einige sehr ernüchternde Dinge über die Southern Tier: in Texas war es schon in den letzten Wochen nachts bis -8 °C kalt, im gesamten Süden der USA wurde er häufig von Hofhunden verfolgt und die Strecken östlich von Austin sollen langweilig und gefährlich sein. Wunderbar. Das hob doch die Laune. Gut, niemand hat behauptet, dass es einfach werden würde.

Auf dem Seitenstreifen des Freeways 8 fuhr ich irgendwann auf einen recht langsam fahrenden Reiseradler auf, der einen großen Anhänger mitzog. Ich sprach ich ihn an und wurde binnen kürzester Zeit mit aberwitzigen Verschwörungstheorien zu seiner Person belegt. Er wisse von allem und sei daher nun auf der Flucht. Nach der “aufregenden” Geschichte war ich es dann, der die Flucht ergriff, was glücklicherweise nicht schwer war, da ich etwa doppelt so schnell wie er radelte. Unter einer Brücke traf ich dann kurz darauf auf einen normaleren Reiseradler, der von Alaska aus kommend bis nach Ushuaia in Argentinien möchte. War doch einiges los hier… Als ich in den Großraum von Phoenix hinein fuhr, tauchten dann die ersten riesigen Saguaro-Kakteen auf, für welche die Sonora-Wüste so bekannt ist. Die Dinger stehen manchmal hier sogar als Vorgartenbepflanzung herum. Ab Phoenix wurde das Klima auf der Straße gegenüber Radfahrern merklich rauer. Es begann mit gelegentlichem Hupen, später folgten manchmal Beleidigungen und sogar ein paar Abdrängversuche. Ich radelte bald ins San-Carlos-Reservat der Apache-Indianer, wo ich über weite Ebenen zu einigen Bergketten blickte. Das örtliche Museum war leider geschlossen. Drei Polizeiautos rasten mit Blaulicht und Sirene vorbei. Die Reservate sind berüchtigt für ihre schlechten Lebensbedingungen, hohe Arbeitslosigkeit und hohe Kriminalität. Beim Weiterfahren war der Mount Turnbull immer in Richtung Süden im Panorama präsent. Ein fieser, sehr stetiger Gegenwind erschwerte mein Vorankommen erheblich. Der Ort Bylas machte einen äußerst traurigen Eindruck. Kurz nachdem ich das Reservat wieder verlasse, fand ich einen Lebensmittelladen. Ein echter Apache kam vorbei. Wir kamen kurz ins Gespräch, aber alles, was er wollte, ist Geld für Alkohol. Die freundliche Kassiererin des Ladens begann herumzutelefonieren, um mir bei der Suche nach einem Zeltplatz zu helfen. Mir wurde als Tipp eine Ruine in etwa zwei Kilometern genannt, um welche herum viele Bäume stehen würden. Nun kann ich das “Zelten neben einer unheimlichen Ruine” auch abhaken. Der folgende Abschnitt war ein echtes landschaftliches Highlight. Zunächst verlief die Straße schnurgerade durch eine weite Ebene, mit dem Mount Graham im Süden. Bald stieg die Strecke auf über 1.300 Meter an und ich befand mich plötzlich auf einer kleinen Hochebene, welche von markanten Felsen und Bergen umgeben ist. Kakteen wucherten auf den Hängen. Ein majestätisches Bild. Wenn kein Auto kam, war es extrem still. In Duncan, Arizona, rollte ich an interessanten alten Hausfassaden vorbei. Der ganze Ort wirkt so, als wären die Uhren vor einigen Jahrzehnten stehen geblieben. Beim Hotel Simpson fragte ich nach einem Zimmer. Dort ist jedoch keines verfügbar und das Thanksgiving-Dinner so gut wie fertig. Clayton bat mich aber dennoch hinein und führte mich zu seiner Malerwerkstatt im Hinterhof, wo ich unterkam. Und später luden Clayton und seine Frau Deborah mich dann sogar zum Abendessen ein – so kam ich dann tatsächlich an ein traditionelles amerikanisches Thanksgiving-Essen. Und was für eine freundliche, schöne Atmosphäre es war. Im Hotel bestand fast die gesamte Inneneinrichtung aus Antiquitäten. Es war, als würde man auf der Türschwelle eine kleine Zeitreise unternehmen. Im Garten setzte sich das fort, denn dort steht neben der Malerwerkstatt die Ruine einer spanischen Kirche. Wer hat denn schon die Ruine einer spanischen Kirche im Garten? Nachdem wir alle auf den Weltfrieden angestoßen hatten, erwähnt Clayton, dass für ihn der wichtigste Lebensinhalt darin bestehe, Menschen Freude zu bereiten. Das hatte er heute wahrlich geschafft! Deborah nimmt hier Katzen auf, die kein sonst Zuhause mehr haben. Wie viele Katzen momentan in Haus und Hof leben, weiß wohl niemand so genau. Am nächsten Morgen trat ich wieder hinaus auf die Straße. Ich machte zur Erinnerung ein Foto des Hotels. Clayton saß am Fenster und las in der Zeitung.

Etwas östlich von Duncan erreichte ich dann New Mexico. Mein dritter Bundesstaat. Arizona war durchquert, was doch recht schnell ging. Bis Lordsburg war ich in einer enorm weiten und flachen Hochebene unterwegs. Auf der geraden Straße inmitten dieser gewaltigen Fläche wirkte ich auf meinem Fahrrad irgendwie absurd deplatziert, regelrecht verloren. Aber es machte Spaß. Das Wetter spielte mit und der Wind gab auch Ruhe. Nachmittags kam ich am Motel in Lordsburg an. Der Besitzer war erst etwas mürrisch, taute dann aber auf, da er mir von seiner Zeit in Frankfurt und Hamburg erzählen konnte. Interessant, wie die Wege der Menschen verlaufen. Nach vielen Zwischenstationen landete er irgendwie hier im absoluten Nirgendwo. Zwischen Lordsburg und Silver City erreichte ich dann den westlichen Ast der „Continental Divide“, der kontinentalen Wasserscheide. Ich verließ das Einzugsgebiet des Pazifischen Ozeans und fuhr nun bis zum Emory-Pass im kleinen endorheischen Guzmán-Becken. Östlich von Silver City ging es dann tatsächlich endlich in den zweigeteilten Anstieg hoch zum Emory-Pass. Die Straße führte erst durch Weidelandschaft und später durch einen hübschen Pinienwald. Einige schöne Felsformationen waren zu sehen. Die Straße stieg stetig und nie zu steil an, weshalb ich wirklich gut vorankam. Dann stand ich endlich auf der ersehnten Passhöhe auf 2.508 m Höhe. Es war eiskalt, aber noch schneefrei. Laut der Wettervorhersagt hatte ich gerade so noch einen der letzten Tage vor dem ersten Wintereinbruch erwischt! Ich zog die Fleecejacke, die Softshelljacke, die Handschuhe und die Sturmhaube über und machte Fotos. Als ich nach einer Weile wieder weiterfahren wollte, kam plötzlich ein Unimog mit Hamburger Kennzeichen aus dem Wald. Ich grüßte mit einem „Moin, Moin!“. Das Paar mit Hund hat den Unimog nach Halifax verschifft und nun wollen sie damit zwei Jahre unterwegs sein. Was für ein Zufall, sie ausgerechnet hier zu treffen. Und ein komisches Gefühl, dass erste deutsche Kennzeichen seit Khajuraho in Indien gesehen zu haben. Es ging eindeutig wieder nach Hause. Dazu passend hatte ich auf dem Emory-Pass nun wieder das Einzugsgebiet des Atlantischen Ozeans erreicht. Die folgende Abfahrt war zwar sowohl landschaftlich als auch fahrerisch wunderschön, aber auch bitterkalt, trotz Handschuhen und Sturmhaube.

Hinein nach Texas: Baumwolle, Marfa Lights und das Hill Country

Wirklich phänomenal war die offene Ebene des Rio-Grande-Tals, durch welches ich nach der Abfahrt vom Emory-Pass zunächst fuhr. Ich radelte dann durch eine etwas öder werdende landwirtschaftlich genutzte Gegend nach Hatch. Entlang der Straße sah ich einige Baumwollfelder. Auf dem Weg nach El Paso kam ich durch zahlreiche Pekannussplantagen. Leider liegen in dieser Region sehr häufig mit Stacheln bewehrte Pflanzensamen (“Goatheads”) auf der Straße, weshalb ich einige Male platte Schläuche flicken musste. Auf einer kleinen Landstraße erreichte ich Texas, was leider durch kein entsprechendes Hinweisschild kundgetan wurde. El Paso empfing mich mit ständigen Anstiegen, engen Fahrspuren und dichtem Verkehr. Nach einer Weile erreichte ich Nebenstrecken, auf welchen es sich etwas besser fuhr. Zwischendurch konnte ich wieder mal den Grenzzaun zu Mexiko bestaunen, auf dessen anderer Seite die Drogenhochburg Ciudad Juarez liegt. Bald fuhr ich auf ein paar kleinen Nebenstraßen durch das offene Tal des Rio Grande immer in Grenznähe. Der Rückenwind war wieder da und schob mich phänomenal an. Ich fuhr ohne Anstrengung oft im höchsten Gang in der Ebene. Nach Fort Hancock musste ich kurz auf die Interstate 10 wechseln. In diesem Landkreis hat diese Straße mit 80 Meilen pro Stunde offenbar das landesweit höchste Tempolimit. Eine perfekte Fahrradroute also. Aus der Chihuahua-Wüste ragten einige kleine Tafelberge und Hügel empor. Vor Van Horn erreichte ich an einer Landkreisgrenze (!) die dritte Zeitzone meiner US-Durchquerung. Wieder eine Stunde weiter nach vorne. Südlich von Van Horn fuhr ich wieder durch endlose weite Ebenen weiter. Ich erreichte das verschlafene Künstlernest Marfa. Dann radelte ich noch bis zur Aussichtsplattform der “Marfa Lights”. Auf der Plattform schaute ich zunächst den Sonnenuntergang an. Gegenüber der gerade verschwundenen Sonne sah der Himmel mit seinem tiefblau-orange-grau-Wechsel (von unten nach oben) über der weiten Steppe sogar noch beeindruckender aus. Ein gutes Dutzend anderer Leute und ich schauten dann in die dunkle Ebene nach Süden. Im Bereich des Highways 67 erschienen bald Lichter, mal weiß, mal rot, mal bläulich, die zu „Tanzen“ beginnen. Mal teilen sie sich. Im Fernglas oder auf vergrößerten Fotos sieht es so aus, als würden sie über dem Horizont schweben. Verantwortlich für diesen Effekt ist wahrscheinlich das Zusammenspiel von wärmeren und kälteren Luftschichten, die die Lichter von Autos oder von Lagerfeuern unterschiedlich und wechselnd brechen, weshalb auf die große Entfernung diese Täuschungen entstehen, welche als “Marfa Lights” bekannt sind. Bald erschien ein weiteres Licht mitten über der Steppe, abseits jeder Straße,, möglicherweise von einem Geländewagen. Ein spannender Abend. Orte wie Marfa in Texas und Duncan in Arizona verleihen dem Südwesten der Vereinigten Staaten irgendwie einen magischen Charme. Gegen 21:00 leerte sich die Plattform und neue Leuchterscheinungen traten auch nicht mehr auf. Ich baute daher im Gebüsch mein Zelt auf und verzog mich darin für die kalte Nacht, in welcher wieder die Kojoten heulten. Östlich von Marathon, Texas, führte die Straße, stets ganz leicht absteigend, durch ein langes Tal, vorbei an vielen kegelförmigen Hügeln und längeren Bergketten. Die Vegetation wurde ganz allmählich zunehmend dichter und grüner, je tiefer ich kam. Der Übergang war gefühlt wirklich perfekt linear – das komplette Gegenteil der abrupten Vegetationswechsel, die ich bisher auf der Reise erlebt habe (z.B. südöstlich von Nallihan in der Türkei, östlich von Jerusalem oder westlich von Calexico). Nach Del Rio radelte ich an der Laughlin Air Force Base vorbei. Trainingsmaschinen, sowohl mit Propeller- als auch Düsenantrieb, donnerten dicht über meinen Kopf hinweg, als sie zur Landung ansetzten. Die Landschaft war nun wirklich merklich grüner als in den “Trans-Pecos” im Westen von Texas. Baumreihen zierten manchmal den Straßenrand. Ich hatte die Wüsten und Steppen des Südwestens der USA nun wirklich hinter mir gelassen! Die Wäldchen und Wiesen des Texas Hill Countries schlossen sich an. Die Anstiege im Texas Hill Country können mich nach den Bergen Indonesiens nicht mehr schockieren, auch der unter Radfahrern berüchtigte Anstieg direkt westlich von Austin. Unterwegs erinnerte mich die Landschaft stellenweise sehr an Oberbayern. Austin wirkte sehr modern und gepflegt. Ein durchaus erheblicher Kontrast zu den Dörfern im Umland, welche oftmals wirklich sehr traurig und fast verlassen wirkten. Von Austin aus soll mich die weitere Route dann bis nach Florida führen, wo meine US-Durchquerung in Miami enden soll.

Über das Radfahren auf diesem Abschnitt

Pazifikküstenradweg von San Francisco nach San Diego: Zum ersten Mal seit Griechenland und fast eineinhalb Jahren musste ich mir um die Routenplanung keine großen Gedanken mehr machen, sondern konnte meistens einfach etablierten Radfernrouten folgen. Entlang der Pazifikküste verläuft eine Radfernroute der Adventure Cycling Association. Das enorm hilfreiche Routennetzwerk dieser Organisation kann unter https://www.adventurecycling.org/routes-and-maps/adventure-cycling-route-network/interactive-network-map/ abgerufen werden. Die Radroute verläuft oft auf richtigen Radwegen oder auf kleineren Landstraßen, ab und zu muss aber auch auf den Seitenstreifen von Highways und sogar Freeways ausgewichen werden. Die Route in Kalifornien wird ganzjährig befahren, weshalb ich zum ersten Mal auf dieser Reise fast täglich auf andere Reiseradler traf. Viele der Campingplätze in den kalifornischen State Parks bieten sogenannte Hike&Bike-Preise (“H&B”) für Radfahrer und Wanderer an. Die Preise bewegen sich meistens zwischen fünf und zehn Dollar. Nicht alle State Parks geben ihr H&B-Angebot auf ihrer Website an, weshalb es sinnvoll sein kann, direkt den Park anzusteuern und dort nachzufragen. Auf einem vom Landkreis (County) betriebenen Campingplatz habe ich ebenfalls einmal einen guten H&B-Preis bekommen - auch dieses Angebot war auf der Website nicht ausgeschrieben. Die Versorgungslage unterwegs ist fast immer sehr gut. Nur im Bereich des Big-Sur-Highways ist es notwendig, etwas mehr Essens- und Wasserreserven mitzuführen.

Southern Tier von San Diego bis Austin: Die Southern Tier verläuft im Bereich der Wüsten und Bergketten des Südwestens der USA oft auf Servicestraßen parallel zu Freeways oder manchmal auf den Seitenstreifen der Freeways. Zwischen Phoenix und Globe, Arizona, folgte ich nicht der ACA Southern Tier, sondern nahm eine erhebliche Abkürzung über Superior. Diese Abkürzung ist aufgrund des Queen Creek Tunnels berüchtigt und gilt als sehr gefährlich. Ich habe aber festgestellt, dass man den Queen Creek Tunnel sehr gut über den alten Tunnel der alten US 60 umgehen kann. Die Umgehung startet direkt in Superior. Anfangs präsentiert sich die Umfahrung als Schotterpiste, wird aber bald wieder gut befahrbar. Oberhalb des alten Tunnels erreicht die Umfahrung wieder die heutige Hauptstraße, welche auf mich aber nicht sonderlich gefährlich wirkte. State Parks mit H&B-Angeboten gibt es entlang der Southern Tier auf diesem Abschnitt nicht mehr. Ich habe aber bei den Wohnmobilparks (“RV park”) entlang der Strecke sehr gute Erfahrungen gemacht. Wildzelten ist schwierig, da sich fast jeder Quadratzentimenter des Landes in Privatbesitz befindet und entsprechend eingezäunt ist. Die Versorgungsmöglichkeiten sind abschnittsweise sehr eingeschränkt, weshalb stets ausreichend Wasser- und Essensreserven mitgeführt werden sollten. Die längste “Durststrecke” zwischen Sanderson und Comstock in Texas beträgt etwa 145 Kilometer (Achtung: der bei Google Maps eingetragene Lebensmittelladen bei Langtry exisitiert nicht mehr).

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Von Texas nach Miami - manchmal freundlich, manchmal feindlich

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Neuseeland und Fidschi - schockgefroren und wieder aufgetaut